Nachhalten

Nachdem sich der Schuss gelöst hat, erfolgt im Zuge fortgesetzter Kompression der Schultermuskulatur eine weitere Bewegung der Schulterblätter zur Wirbelsäule, zueinander und zum Torso hin. Dies ist die Konsequenz der konstanten Rotationsbewegung des Auszugs.

Nachhalten

Es sollte also nicht in eine abrupt endende „Stop-Position“ nach dem Lösen verfallen werden, da dieses einen „trägheitsbedingten Ruck“ – ähnlich dem Vorgang eines plötzlichen Bremsens bei einem Auto - verursachen würde, welche den Schuss misslingen lassen könnte.

Man muss sich dazu vergegenwärtigen, dass sich mit dem Lösen zwar die Sehne aus der Verankerung am Daumen löst, der Pfeil die Sehne jedoch noch nicht verlassen hat. Somit würden sich plötzliche Veränderungen der Positionierung der Schulterblätter, des Bogen- und des Zugarmes zwangsläufig auf den Pfeilflug auswirken.

Der Schütze bleibt infolge dessen äußerlich gesehen fast starr in der Haltung stehen, die er bis zum Lösen eingenommen hat – obgleich im Bereich der rückwärtigen Schulter-/Haltemuskulatur eine weitere, kleine Bewegung erfolgt.

Nachfolgende Abbildungen illustrieren den Unterschied zwischen den Positionen der Schulter-/Haltemuskulatur im Zeitpunkt der Lösens durch Expansion (links) und des Nachhaltens (rechts).

Positionierung der Schulter-/Haltemuskulatur im Zeitpunkt der Expansion/des Lösens
Positionierung der Schulter-/Haltemuskulatur im Zeitpunkt des Nachhaltens

Diese Bewegung setzt sich idealerweise so lange fort, bis der Pfeil auf dem Ziel auftrifft.

Das gilt auch in den Fällen, in denen aufgrund sehr langen Auszuges der Zugarm bei abgeklapptem Zugunterarm in kreisförmiger Richtung gen Rücken hin rotiert.

Nachhalten unter Wegreißen / Weiterführen des Zugarmes
Bogenbewegung und Handschockabsorption

Im Zuge des Freiwerdens des Schusses wird sich die (Rest-) Energie, welche nicht an den Pfeil abgegeben werden konnte, einen Weg suchen, um Arbeit zu verrichten.

Bei chinesischen Bogen wirkt sich dieses vereinfacht dargestellt wie folgt aus:

Nach Expansion und Lösen der Sehne kommt es zu einem, mit einem charakteristischen Geräusch ("Patschen") verbundenen Aufschlag derselben auf den Sehnenbrücken.

Dieses bewirkt einerseits ein punktgenaues - ruckartiges - Lösen des Pfeiles von der Sehne sowie einen abrupten Verlust an Antriebsenergie für den Pfeil, der diese nicht mehr erhalten kann, da die Sehne als "Energieüberträger/Antriebselement" durch die Brücken "zurückgehalten" wird.

Andererseits fällt diese Energie nun als "überschüssig" an und mangels Stabilisatoren und Schwingungsdämpfern vollends auf den Bogen und die Sehne (rück-) übertragen.

Dadurch werden diese in Vibration versetzt, welche die Bauart des Bogens - insbesondere die langen, massigen Siyahs - potenziert (Insbesondere die dadurch ausgelöste Schwingung der Sehne kann einen unruhigen Pfeilablaß und -flug bedingen, welchen der traditionelle Aufbau der Pfeile - lange Federn und konisch ausgearbeitete Nocken - kompensieren hilft.).

Die dergestalt auf den Bogen übertragene Energie "sucht" sich darauf unter Verrichtung von Arbeit an dessen schwächsten Punkt „totzulaufen“.

Der Schütze ist in diesen Vorgang durch den Kontakt mit dem Bogen über die Bogenhand zwangsläufig involviert.

Man kann den Vorgang in etwa mit dem Geschehen beim plötzlichen Bremsen oder dem Aufprall eines Autos auf ein Hindernis vergleichen:

Die im Wagen sitzenden und sich mit ihm in Fahrtrichtung "bewegenden Personen" bewegen sich beim plötzlichen Abstoppen des Wagens - trägheitsbedingt - noch weiter in Fahrtrichtung, werden jedoch abrupt durch die angelegten Sicherheitsgurte an einer weiteren Vorwärtsbewegung gehindert. Die dabei freiwerdende Energie durchläuft - neben Bestandteilen des Gurtes, dessen Befestigung etc. - sie selbst, greift an den instabilsten Punkten - meist Thorax sowie Halswirbelsäule - an und verursacht dort enstprechende Verletzungen.

Es bestehen im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, diesen Vorgang zu steuern oder zu verarbeiten:

Starres Festhalten des Bogens

Zum einen kann der Bogen starr in der Position gehalten werden:

In diesem Falle wird die freigewordene Energie über das Griffstück direkt auf die Bogenhand übertragen und dort als sogeannter "Handschock" wahrgenommen.

Sie wird über den Bogenarm in Körper des Schützen transferriert und wirkt sich dort am stärksten aus, wo sie einen schwachen „Angriffspunkt“ findet und dadurch Arbeit verrichten kann.

Dem kann der Schütze nur durch eine stringente Anspannung der Muskulatur entgegenwirken. Dabei kommt ihm die fortlaufende Kompression der zum Rücken hin gerichteten Schulter-/Haltemuskulatur zugute.

Dennoch bilden der Handwurzelbereich, das Ellenbogen- und Schulter-/ Schultereckgelenk des Bogenarmes sowie die Bereiche der Halswirbelsäule (dort die (Zwischen-) Wirbelgelenke) für die vom Bogen vermittelte Energiestoßwelle prädestinierte Angriffspunkte, da sie sich auch bei Anspannung der sie umgebenden Muskulatur nur schwer stabilisieren lassen.

Insbesondere bei Bogen mit ausgeprägtem Handschock – also den klassischen Qing-/Mandschuh-Bogen – sowie bei Personen mit unzureichend ausgebildeter Muskulatur in den betreffenden Bereichen drohen daher Verletzungen in Form von Prellungen, Zerrungen oder Stauchungen. Diese sind oft sehr schmerzhaft und langwierig auszukurieren.

Selbst bei gutem Trainingszustand ist man davor nicht gefeit bzw. es kommt durch den Versuch, mittels extremer Muskelkontraktion der Verarbeitung der Energie entgegenzuwirken oft zu nachfolgenden Verspannungen, insbesondere im Bereich der Muskulatur rund um die Halswirbelsäule bzw. dem schlüsselbeinseitigen Anteil der Schultermuskulatur nebst damit zusammenhängenden, neuralen Irritationen.

Daher ist eine Verarbeitung der Restenergie durch schlicht starres Festhalten des Bogens nur bei Bogen mit geringem Handschock – potentiell also bei Bogen im tibetischen / tibetisch-mandschurischen Design – bzw. nur Schützen zu empfehlen, die über eine hinreichende physische Konstitution verfügen (vgl. hierzu auch die im Abschnitt „Zuggewicht“ erwähnte „Zuggewichtsreserve“).

Freigeben des Bogens

Zum anderen kann der Bogen "freigegeben" werden.

Dazu lösen sich im Zeitpunkt des vom Schützen über den Bogen immer wahrnehmbaren Aufschlags der Sehne auf den Sehnenbrücken die bis dato an Mittel-, Ring- und Kleinfinger sowie Handgelenk anliegenden Spannungs- und Druckverhältnisse geringfügig.

Einer bewußten Handlung bedarf es dazu nicht:

Das Unterbewußtsein steuert diesen Vorgang ebenso, wie etwa beim Auftreffen eines Schwertes auf ein anderes, beim Aufschlag einer Axt auf einen Holzklotz oder eines Hammers auf ein Objekt.

Die Hand entspannt sich genau in dem Maße, wie es nötig ist, um dem Bogen einerseits eine Freigabe zu ermöglichen, ihn andererseits jedoch nicht fallen zu lassen.

Das einzig Bewußte an diesem Vorgang ist der Willen, die unterbewußte Steuerung zuzulassen und den Bogen nicht - wie in der voranstehenden Variante - starr und krampfhaft festhalten zu wollen.

Aufgrund der vorangegangenen Ausrichtung des Bogens durch Zurückziehen vorbesagter Finger und daraus folgendem, leichten Kippen des Bogens mit dem oberen Wurfarmende schräg nach vorn gen Ziel wird sich der Bogen bei dieser Vorgehensweise nach dem Aufschlag der Sehne auf den Sehnenbrücken trägheitsbedingt in Schußrichtung und zur rückwärtigen Seite des Schützen hin nach außen hin um sich selbst drehen.

Dabei "drängelt" der Bogen die im Handgelenk und in sich gelockerte Bogenhand sowie - je nach Stärke des Aufschlages - den Bogenarm durch seine ruckartige Bewegung etwas nach außen:

Es scheint somit auf den ersten Blick, als ob die Hand den Bogen nach außen, aus der Schußbahn des Pfeiles herausnehmen oder -drehen würde.

Bei näherer Betrachtung wird jedoch ersichtlich, dass dieses nicht der Fall ist, da diese durch den Bogen gesteuerte Bewegung erst erfolgt, nachdem der Pfeil den Bogen bereits verlassen hat (vgl. untenstehende Videoaufnahmen).

Diese, sich bei der Freigabe einstellende Bewegung des Bogens ist ein Phänomen, welches sich auch im Bereich des klassisch olympischen Schießens beobachten lässt: Es wird dort als „Springen“ oder „Abkippen“ bezeichnet. Der Bogen wird dabei mittels einer Fangschline am Handgelenk des Schützen gehalten.

Wendet man diese Methode an, wird sich die Energiewelle bzw. der Handschock im Wesentlichen in der Drehung des Bogens aufbrauchen; Gefahren von Verletzungen durch diese entfallen.

Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass man diese Bewegung des Bogens als Eigene geschehen lassen muss:

Es darf kein aktives „Herausdrehen“ erfolgen, da sich jenes nach den bereits erfolgten Ausführungen kontraproduktiv auf den Schuss auswirken würde.

Zudem würde dies die Problematik schaffen, den genauen Zeitpunkt für das aktive Herausdrehen bei jedem Schußvorgang neu bestimmen zu müssen.

Weiterhin ist der Wille erforderlich, die Freigabe des Bogens unterbewußt auch geschehen lassen zu wollen.

Dahingehend bedarf es eines gewissen, nur durch Anleitung und stetige Übung zu erwerbenden Vertrauens in den Bogen und die eigenen Fähig- und Fertigkeiten.

Schließlich muss die Bewegung des Bogens an sich mit der Bogenhand zumindest dergestalt kanalisiert werden, dass der Bogen mangels Fangschlinge nicht aus der Hand „springt“. Dieses ist, insbesondere bei Bogen mit dickerem Griffstück und höheren Zuggewichten, oft schwer zu koordinieren.

Daher sollte zunächst mit einem wenig handschockbelasteten Bogen die Methode der Verarbeitung der Restenergie durch schlicht starres Festhalten des Bogens eingeübt werden. Die Verletzungsgefahren halten sich so in Grenzen und ein sauberer Schußablauf kann eingeübt werden. Erst darauf sollte die Methode der Freigabe beübt werden, auf dass bei Bedarf auch Bogen mit höheren Zuggewichten, stärkerem Handschock benutzt werden können.

Video zu Bogenbewegung und Handschockabsorption
Video zu Bogenbewegung und Handschockabsorption (Zeitlupe)